Und dennoch gibt es ein Europa, das, friedlich und freiwillig vereint, immer mehr zusammenwächst. Schaut man auf den Rest der Welt und die dort vielfach herrschende entsetzliche Armut, so ist klar, dass Europa längst die führende Wirtschafts- und Wohlstandssphäre der Erde geworden ist. Betrachtet man, neben dem in Europa herrschenden immensem Wohlstand, auch noch die große kulturelle Vielfalt und den historischen Reichtum sowie die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die in Europa weitgehend anzutreffen sind, dann erhellt sich das Bild und man versteht, warum Millionen von Menschen aus aller Welt hier nur zu gerne einwandern würden.
Was aber zeichnet nun einen Europäer aus? Was ist die gemeinsame europäische Identität? Diese Fragen lassen sich, wenn überhaupt, nur ansatzweise beantworten. Was die Völker Europas in jedem Fall miteinander haben, sind ihre historischen Erfahrungen: Europas große, blutrünstige Geschichte. In dunkler Faszination stehen wir vor den Gespenstern der europäischen Vergangenheit und fühlen uns miteinander in einer Art Erfahrungsgemeinschaft verbunden. Aus den ungeheuren Kriegen, den entsetzlichsten moralischen Verwerfungen und den Erbfeindschaften der letzten Jahrhunderte erwuchs ein immer stärkerer werdender Wille zur friedlichen Versöhnung, zur Kooperation und gemeinsamen Verantwortung. Die europäische Vereinigung ist das Kind dieses ernst gemeinten Willens, aus dem dann eine europäische Wertegemeinschaft hervorgegangen ist, welche zugleich die zweite Gemeinsamkeit der Europäer darstellt: Ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten, zur Demokratie, zu Freiheit, Gleichheit, Marktwirtschaft und Sozialwesen. Sicher wurde, durch den in den osteuropäischen Staaten über viele Jahre vorherrschenden Totalitarismus sowjetischer Prägung, der Gedanke eines gemeinsamen europäischen Wertebewusstseins stark infrage gestellt. Mit dem Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs 1989 und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime hat es sich aber letztendlich auch dort durchgesetzt. Die verbindende gemeinsame Geschichte, die zweifellos auch noch stark in die Gegenwart wirkt und zu der selbstverständlich auch die großen europäischen Kulturgüter in Kunst, Literatur, Philosophie und Musik gehören sowie die freiheitlich-humanistischen Werte, welche die meisten Europäer inzwischen verinnerlicht haben, und die überhaupt auch Grundlage des Europagedankens sind, gibt uns nicht nur eine gemeinsame Identität, sondern auch das Gefühl, über alle Landesgrenzen, Sprachen, Kulturen, politischen und geschichtlichen Eigenheiten hinweg, einer starken Gemeinschaft anzugehören.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Dauerkritik an Europa leicht als das Gejammer der Prinzessin auf der Erbse identifizieren und der Europakritiker als die berüchtigte Meckerziege, die nur übers Gräbelein sprang und einfach nichts Positives an dem Europalein finden konnte.
ILLU: Vincent Bergmann