Ein wenig komme ich mir doch wie ein Eindringling vor, wenn ich heute über die Dulsberger Innenhöfe spaziere. Haus an Haus, Fenster an Fenster umschließen rote Klinkerbauten die kleinen Grünflecken. Offen für jedermann, strahlen sie dennoch eine Intimität und Privatheit aus, wie man sie in der Großstadt selten findet. In schattigen Torwegen, welche die Innenhöfe miteinander verbinden, finden die Einwohner Kühle im Sommer und Windschutz im Winter.
Ruhig und mitten im Grünen liegt der kleine Stadtteil zwischen Barmbek-Nord und Wandsbek. Seine Verkehrsanbindungen sind mit denen von innenstadtnahen Stadtteilen vergleichbar. Alles befindet sich hier in Reichweite – der S-Bahnhof Friedrichsberg und die beiden U-Bahn-Stationen Straßburger Straße und Alter Teichweg. Bis Barmbek sind es gerade einmal 20 Minuten zu Fuß. Eine scheinbar ideale Wohnlage für Familien, doch Kinder spielen hier kaum. Mit 13, 7 % liegt der Anteil der unter 18-Jährigen in Dulsberg unter dem Hamburger Durchschnitt. Sechs Jahre lang (2000-2006) war es mein Zuhause. Mir fiel immer wieder auf, dass nur wenige Hamburger diesen Teil ihrer Stadt kannten. Diejenigen, die es taten, schauten mich erstmal schräg an, sobald ich erzählte, dass ich dort wohne – „Problemstadtteil“.
Dabei ist Dulsberg nicht uninteressant. Vor allem bezüglich der Architektur hat der ehemalige Arbeiterstadtteil viel zu bieten. Überall zeugen Arbeiterskulpturen von seiner proletarischen Vergangenheit. Einige Bauwerke, wie die nach ihrem Erbauer Paul Frank benannten Frank’schen Laubengänge sind sogar – man mag es kaum glauben – denkmalgeschützt. Außerdem trägt wohl kaum ein anderer Ort in Hamburg mehr Spuren des Architekten Fritz Schumacher, der Dulsberg als Neubausiedlung für Arbeiter und ihre Familien plante. Die beiden weiterführenden Schulen – Aufbaugymnasium Krausestraße und Gesamtschule Alter Teichweg – tragen bis heute seine Handschrift.
Als die Siedlung in den 1920er Jahren entstand, galt sie als wegweisend für zukunftsorientierten Wohnungsbau. So waren Wohnungen mit 40-50 m² Wohnfläche und Sanitäranlagen auf jeder Etage für damalige Verhältnisse großzügig angelegt. Und auch nach ihrem Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg luden die mit grünen Innenhöfen und Waschküchen ausgestatteten Häuser zur Bildung von Gemeinschaften und Nähe unter den dortigen Bewohnern ein.
Aber Nähe und Gemeinschaft werden heute oft als Enge und Bedrängnis empfunden. Wenn ich an Dulsberg denke, fällt mir nicht zuletzt das unablässige Knattern der Holzstufen im Treppenhaus und die Gespräche meiner Nachbarn oben, unten und in der Wohnung gegenüber ein. Nur gut, dass keiner von uns die selbe Sprache sprach, sonst wäre noch das letzte Fünkchen Privatsphäre dahin gewesen. Und auch, was die Unterhaltung betrifft, brauchte ich nicht lange suchen. Werktags und am Wochenende machte schon Mal eben die ganze Straße Party – wenn einige Nachbarn Lust hatten, bei weit geöffnetem Fenster mit Lautsprecherboxen und Verstärkern auf der Fensterbank bis zum frühen Morgen abzurocken.
Eine solche Umgebung wirkt auf Familien und Gutverdiener nicht gerade wie ein Magnet. Und so scheint das, was ehemals eine fortschrittliche Neubausiedlung im großen Stil sein sollte, heute als ein Stadtteil für all jene, die es im Leben schwer haben. Der Anteil der Hilfeempfänger nach SGB II ist mit 22,8% fast doppelt so hoch wie der Hamburger Durchschnitt. Auch der Migrantenanteil übertrifft den Landesdurchschnitt ums Doppelte.
Wer in Dulsberg wohnt, kennt sie alle: Parkbänke und Ladeneingänge, in denen sich Männer und Frauen in ausgebeulten Jeans und Windjacken auf ein Bierchen treffen. Der Straßburger Platz vor der großen, prächtig gebauten Frohbotschaftskirche ist ein solcher Ort. Dort treffen sich schon am Morgen all jene, die tagsüber nirgends hinzugehen brauchen. Es wird geklönt und getrunken wie andernorts auch – nur geht es hier eben etwas früher los.
Die Bänke der Kirche bleiben dagegen leer. Eine der beiden Stadtteilkirchen musste schon vor einigen Jahren schließen. Und auch die Frohbotschaftskirche erlebt dieser Tage nur noch an Weihnachten Hochkonjunktur. Sonntags finden sich kaum mehr als ein Dutzend Rentner und Konfirmanden zur Messe ein – dabei passen locker bis zu 800 Leute in die Kirche. Der Altersdurchschnitt ist hoch und entsprechend altersgerecht sind auch die Predigten.
Geringe Wahlbeteiligung und Desinteresse ergänzten lange Zeit neben Armut und Alkoholismus den Plagenkatalog der Dulsberger und betteten den Stadtteil für eine Weile in Dornröschen-Schlaf. Erst in jüngster Zeit wird er nach und nach erweckt, durch frischen Zuzug und Kulturinitiativen, denn: Es herrscht Bewegung auf dem Dulsberg.
Wann immer ich jetzt durch den Stadtteil fahre, sehe ich junge Leute auf Fahrrädern, ausgestattet mit Rucksäcken und Laptoptaschen: Studenten. Plötzlich sind sie da, angelockt durch bezahlbare Mieten und überdurchschnittlich gute Verkehrsanbindungen in die Innenstadt. Auf einmal wuselt und brodelt es dort, wo zuvor jahrelang Stillstand herrschte. Das hat auch die Gastronomie erkannt: Letztes Jahr hat das Café May in der Stormarner Straße eröffnet. Seitdem hat die alternativ angehauchte Caffe-Latte-Kultur auch in Dulsberg Einzug gehalten und durch die hohen Glasscheiben kann man junge Leute irgendwas geschäftig in ihren Laptop eintippen sehen. Und auch das kulturelle Angebot wurde von engagierten Bürgerinnen und Bürgern erweitert. In 2008 wurde zum Beispiel die Kunstgalerie „DulsArt“ gegründet, um Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit zu geben, sich über ihre Arbeit auszutauschen und ihre Werke auszustellen. Weitere Projekte, wie die Dulsberger HerbstLese und das MaiRauschen finden seit 2006 jährlich statt.
Schlecht ist das nicht, denn sie zeigen: Wohnen auf dem Dulsberg geht klar. Und wer weiß, vielleicht wird es in absehbarer Zeit sogar cool sein, dort zu wohnen.
FOTO: Julia Rotenberger
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