Alle hängen über dem Abgrund. Verschlungen, gefangen, verworren in einem Netz, das augenscheinlich Halt gibt. Nach kurzer Zeit jedoch zeigt es seinen wahren Charakter: Würgend hält es jeden, der in ihm steckt, fest und zwingt ihn sich weiter an es zu klammern, um nicht zu fallen. Aber sich an das Übel zu binden, damit man dem Abgrund entkommt, ist das nicht paradox?
Franz Woyzeck (Felix Knopp), ein armer Soldat am Rande der Gesellschaft, schlägt sich durch dieses Netz, um für sich, seine Geliebte Marie (Maja Schöne) und das gemeinsame Kind wenigstens einen Hungerlohn zu erwirtschaften. Seine Sprache ist ungeschliffen, sein Umgang grob, er leidet unter seinen Verhältnissen. Dennoch hat er plagende Gedanken, die fragen: Liegen Verbrechen und Betrug in der Natur des Menschen? Genügt es sich zur Verhinderung eines Mordes den Arm abzuschlagen? Ist der Mensch frei, über sein Handeln zu entscheiden?
Die Diskrepanz zwischen dem in Woyzeck durchaus vorhandenen Wunsch nach Moral und seinen realen Lebensumständen, Mitmenschen und eigenem Tun rufen in ihm eine Schizophrenie hervor, die ihn schließlich zum Mord an der ihm untreu gewordenen Marie treibt. Das Netz hat sich zu fest zugezogen.
Auf diese wahnsinnig-schizophrenen Eigenschaften Woyzecks hat sich die Inszenierung am Thalia Theater konzentriert. Der tragische Riss und die schreiende Verzweiflung Woyzecks finden in Musik und Text der von Tom Waits komponierten Lieder Ausdruck und sind Hauptbestandteil der Stückes. Sie führen in die Gedankenwelt Woyzecks und der übrigen Personen ein: Aggressive Geigen, donnerndes Klavier und schrille Flöte verdeutlichen die Verzweiflung der Menschen, vorsichtig gespielt deren stille Haltlosigkeit und Sehnsucht. Die Musik ist nicht nur Untermalung, sondern Sprachrohr der Darsteller. Hilflosigkeit und Angst werden gesteigert durch das Bühnenbild, das den Schauspielern akrobatische Leistungen abverlangt: Das „gefühlte“ Netz wird übertragen auf ein riesiges wirkliches, unter, auf und zwischen dem gespielt wird. Mal steht es gerade – hoch in der Luft oder nah am Boden -, mal steht es schräg, sogar halsbrecherisch senkrecht. Die Personen können sich nur noch balancierend und hangelnd fortbewegen, also genau so unfrei und unsicher, wie in dem Leben, das sie führen. Entfliehen können sie nicht, fallen wollen sie nicht, helfen tut ihnen keiner: God‘s away on business!
Musik und Bühnenbild bilden gemeinsam eine ausdrucksstarke Veranschaulichung des Kernthemas im „Woyzeck“: Die Verbitterung und Verzweiflung aufgrund unerfüllter Ansprüche und gebundenem Handeln. Entfremdungseffekte (wie z.B. eine zarte Marie, die zur Annäherung gegen ihren fetten Geliebten springt oder ein trinkender, neurotischer Doktor, der Versuche an Woyzeck ausführt) verstärken das Unwohlsein beim Zuschauer und erinnern an Brecht‘sches Theater, das eine distanzierte Sicht des Betrachters auf Missstände hervorrufen soll.
Zuweilen jedoch überstrapaziert die Musik eine wunderbare Szene und verleiht ihr einen Hauch Musical: Die Musik verflacht die Tragik und wesentliche Fragen, die zu Beginn aufgeworfen wurden („Was ist es, das…?“) begnügen sich mit der Darstellung der Symptome.
Uneingeschränkt beeindruckend sind die Leistungen der Darsteller: Ob kopfüber am Netz hängend oder unter dem Fleischberg des Tambourmajors begraben, sie singen und spielen ergreifend. Gestik und Mimik der verkörperten, psychisch und körperlich leidenden Personen sind so fein angepasst und ausgedrückt, dass deren Lage genauer nicht darstellbar ist. Die zum Teil kindlichen Züge Woyzecks erscheinen in einer Haltung, die einem jungen Tier gleicht. Maries staksig-stolpernder Gang auf High Heels zeigt ihr Leben abseits von sanfter Weiblichkeit.
„Woyzeck“ ist ein Stück über Unfreiheit und Verzweiflung. Mit der Inszenierung am Thalia Theater in Hamburg ist eine schmerzhaft überzeugende Verkörperung dieser beherrschenden Gewalten gelungen, die es sich lohnt anzuschauen!
FOTO: Krafft Angerer