Im Thalia Theater Gaußstraße treffe ich während der Hamburger Theaternacht Matthias Leja, Ensemble-Mitglied. Die Zeit drängt: Matthias Leja führt an diesem Abend Interessierte durch das Bühnenbild des Dramas „Das Judasevangelium – oder Verrat ist deine Passion“, in dem er die Rolle des Gregors verkörpert. Das Besondere an dieser Inszenierung: Die Bühne besteht aus drei Räumen, in die sich das Publikum verteilt. Wird in einem Raum gerade nicht gespielt, überträgt ein Bildschirm per Kamera live die Geschehnisse aus dem Nachbarzimmer.
Zum Interview nehmen wir im „Wohnzimmer“ Platz. Die Kamera in der Mitte des Esstisches zeigt jetzt mein Gesicht in Großformat im Nebenzimmer: Auf dieser Bühne ist nur die Toilette privat.
Meine Irritation verbergend, frage ich, ob das Schauspielen mit dem Aufsetzen einer Maske vergleichbar sei. Matthias Leja entgegnet sofort: „Nein! Eine Maske aufsetzen ist Verstecken. Eine Figur darzustellen bedeutet, sie sich zu erarbeiten und Teile der eigenen Person mit Teilen der fremden zu zeigen. Es ist gerade das Ziel heutiger Theaterarbeit, sich nicht hinter Rollen zu verbergen, sondern sie mit den eigenen Voraussetzungen neu zu entdecken.“ Es gibt zwei grundsätzliche Formen der Rollenannäherung: Das verwandelnde und das anverwandelnde Theater. Aktuell bevorzugt man das Anverwandeln, bei dem man die Figuren möglichst nah an sich heran lässt. Die Rollen sollen „wie du und ich“ erscheinen. Um sich einer Figur anzunähern, muss man viel über sie lesen, Informationen sammeln, beobachten. Eine Maske zieht man dagegen nur über. Wenn ich jetzt nur eine hätte, denke ich, während ich zur Kamera schiele.
Matthias Leja fährt fort: „Grundsätzlich ist es bei mir eher so, dass die einem ferner und unangenehmer scheinenden Rollen die interessanteren sind. Figuren, die alltäglicher und persönlich näher sind, wie z.B. der liebe Vater oder leidende Verliebte, sind auch die weniger spannenden. Es gibt dann wenig Neues zu entdecken.“
Masken verändern sich nicht. Aber Rollen, entwickeln die sich auf der Bühne weiter?
„Ja, auf jeden Fall! Manche Dinge und Abläufe werden einfach selbstverständlicher und homogener. Alle spielen sich mehr und mehr ein, sollten eins mit ihrer Rolle werden. Trotzdem entdeckt man immer wieder Neues. Ein Stück ist schließlich keine tote Materie, sondern so, wie man selber nicht jeden Tag gleich lebt, spielt man auch immer etwas anders. So ein Abend ist also nie fertig.“.
Aber besteht dann nicht die Möglichkeit, dass man unter dem Einfluss der Figur seinen Charakter verändert? Was nimmt man nach der Aufführung mit?
„Ich konnte – jedenfalls bisher- nicht sagen ‚Mit dieser Rolle hat sich mein Leben geändert!’. Es ist eher andersherum: Die eigene Person beeinflusst die Rolle. Was man sagen kann ist, dass man durch ständiges, direktes und intensives Auseinandersetzen mit Persönlichkeiten und Stücken automatisch auch intensiver denkt. Durch das dauernde in Berührung kommen mit neuer Materie bleibt man nachdenklich und hinterfragt. Es ist auch nicht so, dass man sich nach einem Stück besonders verändert fühlt. Das Gefühl während der Aufführung ist meistens schnell weg. Aber es ist nicht nichts passiert. Darum ist man mitgenommen und vielleicht erschöpft, anders empfinden tut man jedoch nicht unbedingt. Sagen wir mal so: Ich kann hinterher nicht locker feiern, dafür tritt alles zu sehr an einen heran, aber ich fühle mich nicht grundlegend anders.“
Die Tür zum Wohnzimmer geht auf: „Matthias, kommst du?“. Es ist Zeit. Die nächste Gruppe wartet darauf, durch die Wohnbühne geführt zu werden. Ich verlasse den Bannkreis der Kamera mit der Erkenntnis, dass heutige Rollenfindung wirklich nichts mehr mit Masken zu tun hat. Schauspielen ist eben Kunst. Kein Maskenball.