„Precious“ – ist das Leben wirklich kostbar?

Die 16-jährige Claireece Jones hat den Vogel abgeschossen, der einen zum Verliererdasein in unserer Gesellschaft verdammt. Ihr Rufname Precious ist reinster Zynismus. Schwer übergewichtig und gehänselt von der ganzen Klasse muss die junge Afroamerikanerin aus Harlem, ohne grundlegende Rechen- und Schreibfertigkeiten die High School verlassen, nachdem herauskommt, dass sie bereits das zweite Mal schwanger ist. Was niemand weiß ist, dass beide Schwangerschaften die Folge von jahrelangem Missbrauch durch den eigenen Vater sind. Von der Mutter verachtet und misshandelt gibt es für Precious Lebensweg nur noch eine Richtung: Steil bergab! Als sie sich, um ihrer Mutter Sozialhilfe zu sichern, auf einer Sonderschule für Schulabbrecher anmeldet, trifft sie auf ihre letzte Chance in Form einer jungen, unerschütterlichen Lehrerin, die sich ihrer annimmt.
Regisseur Lee Daniels, der bereits 2002 mit seinem Debüt „Monster’s Ball“ Halle Berry den Aufstieg in den Oscar-Olymp bereitete, wurde nun selbst in den Kategorien „Film“ und „Regie“ nominiert. Vorlage für den Film war der Roman „Push“ der New Yorker Schriftstellerin Sapphire, die als Sozialarbeiterin und Lehrerin in sozialen Brennpunkten eigene Erfahrungen in ihre Erzählung einfließen ließ.
Während das grobe Konstrukt um Precious persönlichen Kampf und ihre letzte Chance noch sehr hollywoodkonform daherkommt, weiß Daniels es durch die Auflösung einfacher Gut-und-Böse Schemata und das Vermeiden eines eindeutigen Happyends zum Einsturz zu bringen.
Fesselnd wird der Film jedoch erst durch die schauspielerische Leistung seiner bisher unbekannten Darstellerinnen Mo’Nique und Gabourey Sidibe.
Mo’Nique, die als arbeitslose Mutter Mary ihre Tochter psychisch und physisch bis aufs Äußerste malträtiert, schafft es, beim Zuschauer Mitgefühl für die kleine liebesbedürftige Person hinter der brutalen Fassade zu erregen. Bleibenden Eindruck hinterlässt ihr atemberaubender Monolog gegen Ende des Films, in dem sie ihre unterlassene Hilfeleistung bei Precious Vergewaltigungen zu erklären sucht.
Gabourey Sidibe, die vor ihrer Rolle als Precious nie vor der Kamera stand und eher zufällig beim Casting in Harlem landete, zeichnet das Porträt eines Mädchens, das trotz ihrer groben und zunächst sehr passiven Art sofort den Zuschauer für sich gewinnt. Durch den Film hindurch erhält sie der gescheiterten Schülerin eine bizarre Würde. Da Sidibe selber aus Harlem stammt und sich teilweise mit der Figur Precious identifizieren kann, bietet sie eine aufregende Authentizität.
Besondere Vielschichtigkeit erreichen Film und Figuren durch unregelmäßige, gelungen eingebundene Flashbacks und Traumsequenzen, in denen man sowohl Szenen des Missbrauchs als auch Starruhm und Zweisamkeit mit ihrem Mathelehrer miterlebt. Wie so oft lohnt es sich auch bei diesem Film, sich der englischen Originalfassung zu stellen.
Mit ihrer nuschelnden, leisen und zurückhaltenden Sprache scheint Precious die überproportionale negative Aufmerksamkeit, die sie durch ihre Erscheinung generiert, umkehren zu wollen. Auch die Sprüche ihrer Klassenkameradinnen in der Sonderschule, sind auf Englisch komödiantische Würze für das ansonsten triste Umfeld.
„Precious – das Leben ist kostbar“ ist ein außergewöhnlicher Film, der ein schmerzliches Bild der schwarzen New Yorker Unterschicht zeichnet, doch gleichzeitig durch zwischenmenschlichen Zusammenhalt in der Hoffnungslosigkeit zeigt, dass man kurz vor der Endstation mit Wille und Unterstützung doch noch umkehren kann.

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