Das muss wohl ein Schulprojekt sein – dieses junge Mädchen, was da in der Einkaufstraße steht und die Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt verkauft. Sie ist jung, vielleicht in der 10. Klasse. Wenn das Projekt heute vorbei ist, so scheint es, wird sie nach Hause gehen, in ihr Bett, zu ihrem Alltag. Mit dieser Erklärung kann der Betrachter zumindest ohne Unbehagen weiter einkaufen.
Doch die Realität ist anders: In Deutschland landen jährlich bis zu 2.500 Jugendliche auf der Straße. Sie bleiben für uns unsichtbar. Sie passen nicht in das Bild, das wir von Obdachlosen haben. Zwei dieser Jugendliche haben uns ihre Geschichte erzählt: Wie sie auf der Straße gelandet sind und nun nach einer Perspektive suchen.
Sandra, 19 Jahre, aus Essen „Einer von euch beiden muss gehen“, hört sie noch immer ihre Mutter sagen. Sandra packt ihre Sachen, gibt ihren Wohnungsschlüssel ab und geht. Keiner hindert sie daran und eine bessere Möglichkeit scheint es nicht zu geben. Die ständigen Streitereien mit der Mutter und dem großen Bruder – willkommen fühlt sie sich Zuhause schon lange nicht mehr. Mit 17 ging sie das erste Mal von Zuhause weg, doch Polizei und Jugendamt fanden sie schnell. Jetzt, zwei Jahre später, weiß sie, es gibt kein Zurück. Ein komisches Gefühl, doch alles ist ihr lieber als Daheim. Anfangs kam sie noch bei Freunden unter, auf Dauer ging das nicht gut und sie musste auf die Straße. „Am Anfang konnte ich abends nicht richtig schlafen, weil ich Angst hatte, dass jemand kommt“.
Auf der Straße gibt es kein Ort, wo man sich zurückziehen kann, keinen geschützten Raum nur für sich alleine. Und so stellt Sandra eines morgens fest, dass ihre Sachen geklaut sind. Leider keine Seltenheit. Irgendwann landet Sandra in Hamburg. Auf der Suche nach einem Schlafplatz lernt sie andere Wohnungslose kennen. Für sie eine gute Erfahrung, denn in der Gruppe fühlt sie sich sicher.
Die Tage werden kälter. Sandra bekommt eine starke Mittelohrentzündung, eine Nierenbeckenentzündung und Fieber. Doch sie darf nicht zum Arzt, denn ihre Mutter hat zu dem Zeitpunkt bereits Sandras Familienversicherung gekündigt. Die Mobile Hilfe versorgt sie vorerst mit den nötigen Medikamenten und einer der Wohnungslosen nimmt sie mit in seine Kirchenkate, auf eine Notunterkunft. Hier darf sie bleiben bis es ihr besser geht, denn draußen, bei den winterlichen Temperaturen, hätte die Geschichte auch ein anderes Ende nehmen können. Sie meldet sich bei Hinz&Kunzt. Das verdiente Geld reicht grade mal, um sich am Tag was zum Essen und zum Trinken zu kaufen, doch es gibt wieder einen regelmäßigen Tagesablauf. Wirklich Hoffnung schöpft Sandra erst wieder, als eine Streetworkerin sie anspricht und ihr Hilfe anbietet. „Die anderen Leute können ja nicht richtig helfen, weil sie ja selbst seit Jahren auf der Straße sind.“
Die Streetworkerin vermittelt Sandra in eine Frauennotunterkunft. Sie hat Glück und bekommt ein Zimmer. Man kann es abschließen und man hat ein eigenes WC, das ist wichtig. Zwar ist der Aufenthalt auf sechs Monate befristet und die Aussichten auf eine feste Wohnung stehen schlecht, doch endlich steht eine Adresse auf der Rückseite ihres Personalausweises. Mit Hilfe der Sozialarbeiterin kämpft sich Sandra durch den Bürokratie-Dschungel, füllt Formulare aus, fordert endlich die ihr zustehenden Hilfeleistungen.
Alleine hätte sie das nicht geschafft.
Nächste Woche beginnt für Sandra die Schule, sie will ihren Realschulabschluss nachholen. Für die Zukunft wünscht sie sich eine Ausbildungsstelle. „Endlich eine reguläre Arbeit, eigenes Geld verdienen und ein eigenständiges Leben führen.“ An Weihnachten hat Sandra einen Brief nach Hause geschickt. Mit frankiertem Rückumschlag und ihrer Handynummer, falls die Mutter sich melden möchte. „Damit sie weiß, dass ich noch lebe und wo ich bin“. Eine Antwort hat sie bis jetzt nicht bekommen. Florian, 24 Jahre, aus Hamburg Familie und Verwandte. Das ist ein Thema über das Florian nicht sprechen möchte. Sein sonst lebensfrohes Grinsen verschwindet, er wirkt unsicher.
Den Kontakt hat er schon vor Jahren abgebrochen und das sei auch besser so. Nach dem Hauptschulabschluss fing Florian eine Ausbildung als Koch an. Die bricht er jedoch ab, als er durch die Zwischenprüfung fällt. „Und dann fehlte es bei mir, ehrlich gesagt, an der Motivation, da noch weiterzumachen.“ Es folgen einige Nebenjobs, dann verbringt er neun Monate beim Bund. Mangels Alternativen fängt er bei einem Schaustellerbetrieb an, er lebt in einem Wohnwagen, verdient nicht viel. Als der Betrieb ihm den Lohn nicht auszahlt, weil die Einnahmen zu gering sind, kündigt er. Das Amt beschließt sein Verhalten zu sanktionieren, eine dreimonatige Geldsperre, weil er gekündigt hat. Die Folge ist, er landet auf der Straße. Keine Wohnung, kein Geld, Lebensmittelgutscheinesind das einzige, was er jetzt beantragen kann.
„Ich finde es erniedrigend mit so einem Zettel in den Laden zu gehen. Und vor allem, wo soll ich als Obdachloser kochen?“. Über die Bahnhofsmission sucht Florian eine Schlafstelle. Er wird in das Haus Jonas vermittelt, eine Übernachtungsstätte. Nach einer Auseinandersetzung bekommt er dort Hausverbot und der Weg führt ihn direkt ins Pik-Ass, Hamburgs berühmt-berüchtigtes Obdachlosenasyl. Keine gute Erfahrung für einen Jugendlichen. „Viele trinken da schon morgens ihr Bierchen oder pissen in den Flur.“ Eines Tages wird sein Spind aufgebrochen, die letzten Klamotten geklaut. Irgendwie muss er über die Runden kommen. „Da verkaufe ich doch lieber Hinz&Kunzt bevor ich klauen geh‘.“
„Viele sehen dich als Hinz&Kunzt-Verkäufer und denken, dem Penner brauch ich nix geben. Aber man kann schneller auf der Straße landen als man denkt.“ Einfach aufgeben? Das kommt für ihn nicht in Frage. „Ich denk‘ da gar nicht groß drüber nach, wie schlecht es mir eigentlich geht. Vergangenheit kann man nicht rückgängig machen, ich versuch eher nach vorne zu blicken.“ Endlich den Lebensunterhalt selber verdienen ist sein Wunsch. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Florian macht sich keine Illusionen. „Ein fester Job und ’ne Wohnung, wenn ich die in ’nem halben Jahr bekomme und in fünf Jahren noch drin bin, hab‘ ich schon was erreicht.“
Die Situation ist nicht einfach, das sieht auch Stephan Karrenbauer. Der Diplom-Sozialpädagoge hilft bei Hinz&Kunzt Obdachlosen im Umgang mit ihrer Lebenslage und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Seit einiger Zeit tritt eine Gruppe von Obdachlosen immer häufiger in Erscheinung: „Es sind Jungerwachsene, die eigentlich kaum auffallen, wenn sie nicht grade Hinz&Kunzt in den Händen halten.“ Eigentlich haben junge Menschen, die am Anfang ihres Lebens stehen, bei Hinz&Kunzt nichts verloren. Sie sollten gefördert und unterstützt werden. Da wird Potenzial vergeudet. Schule, Ausbildung und eine Betreuung wäre da angebrachter. Doch für diese Gruppe scheint niemand wirklich zuständig zu sein und so stehen sie jeden Morgen weiterhin bei Hinz&Kunzt vor der Tür.
Der Alltag wird zuweilen von einem Verdrängungsmechanismus beherrscht. Und solange wir glauben, es träfe nur die anderen, die Faulen, die Drogenkranken und die Uneinsichtigen, fühlen wir uns sicher. Wir gehen weiter durch die belebte Einkaufstraße und bleiben im Glauben an ein Schulprojekt.