Bei jedem Spiel dabei! Rico Zellmer (im Bild rechts) und seine Kollegen
Seit einer halben Stunde sitzt Rico Zellmer bereits auf seinem Stammplatz im Block 3c auf der Osttribüne im Stadion des Hamburger SV. Gemeinsam mit seinem Schulkumpel Michael Conrad hat er letzte Informationen ausgetauscht und etwas Stadionatmosphäre aufgesogen. Beide haben Kopfhörer auf und einen Sender in der Hand. Wie bei jedem HSV-Heimspiel warten sie gespannt auf die kommenden 90 Minuten, die ihnen live kommentiert werden, denn die beiden sind von Geburt an blind bzw. stark sehbehindert.
Knapp fünf Minuten vor dem Anpfiff beginnt der Einsatz von zwei Hamburger Sportstudenten. Per Handzeichen fragen die Reporter ab, ob alle ihr Signal empfangen können. Die beiden Studenten sind mit einem Headset ausgerüstet und nach einer kurzen Einführung in das Spiel live beim Geschehen auf dem Feld dabei.
Für die Blinden ist die Erfahrung im Stadium ein besonderes Erlebnis. Sie haben die Möglichkeit am sozialen Leben teilzunehmen und können am nächsten Tag bei der Arbeit mit ihren sehenden Kollegen über Spielszenen und Entscheidungen diskutieren. „Meine Kollegen staunen manchmal nicht schlecht, wenn ich detailliert die Leistungen der Spieler bewerte“, gibt Rico Zellmer stolz zu.
Die Kommentatoren versuchen das Spiel so lebhaft wie möglich zu beschreiben.
Die 16 Plätze im Block sind beliebt jedoch nicht vollständig vergeben. „Wir haben beim HSV eine Auslastung von knapp 85 Prozent“, erläutert Broder-Jürgen Trede, Mitinitiator und Betreuer des Projekts. Dieses startete zur Rückrunde 2002/2003 mit einer kostenlosen Testphase von einem halben Jahr und ist mittlerweile nicht nur in Hamburg etabliert. Viele Profivereine, darunter auch der FC St. Pauli, haben längst nachgezogen.
In Hamburg gab es zunächst Startschwierigkeiten. „Es hieß, dass eine Umsetzung nicht möglich sei. Doch dann hat Vorstandsmitglied Christian Reichert den Kontakt zum Sportfachbereich der Universität Hamburg hergestellt“, berichtet Regina Hillmann, Vorsitzende der „Sehhunde“, einem Fußball-Fanclub für Blinde und Sehbehinderte. Broder-Jürgen Trede dozierte zum Zeitpunkt der Anfrage am Hamburger Institut für Sportjournalistik und war auf Anhieb begeistert von der Idee.
Der 43-jährige Zellmer besitzt eine Dauerkarte. Bereits vor Beginn des Projekts war er am Wochenende regelmäßig beim Fußball. Im Stadion ließ er sich abwechselnd von seinem Vater oder seinem Bruder das Geschehen auf dem Spielfeld erklären. „Leider fehlten mir hinterher immer ein paar Details“, erzählt Zellmer. „Jetzt bekomme ich alles mit. Die Studenten haben interessante Statistiken und wissen auch viel über die gegnerischen Mannschaften“, führt er fort. Außerdem habe das Angebot sein Stadionerlebnis um mindestens 50 Prozent aufgewertet.
„Jetzt schieß doch endlich“, ruft Zellmer von seinem Stammplatz aus und fordert den Torabschluss. „Hätte er mal auf dich gehört, der Abschluss kommt viel zu spät“, antwortet der Reporter. Derartige Dialoge sind keine Seltenheit. „Ich merke manchmal gar nicht, dass das, was ich sage, so laut ist“, sagt Zellmer. Seine aktive Teilnahme an der Reportage freut die Studenten, denn so können sie die Blinden am Geschehen teilhaben lassen.
Genau hier liegt der Hauptunterschied zur Rundfunk-Reportage. „Wir sitzen direkt zwischen den Blinden und können auf unsere Zuhörer reagieren – bekommen praktisch vorgeschrieben, was wir zu sagen haben“, offenbart Trede. „Wir verorten das Spiel viel mehr auf dem Feld. Positionen sind gefragter als Namen. Unsere Schilderungen sind zudem ausführlicher. Die Zuhörer interessiert, was für Transparente zu sehen sind. Geht eine Laola-Welle durch das Stadion? Wer läuft sich gerade warm? Was machen die Trainer in der Coaching-Zone? Wir müssen genau abbilden, was ein klassisches Stadionerlebnis ausmacht“, erzählt Trede.
Im Dreierteam werden die 90 Minuten bestritten. Zwei Studenten am Mikrofon, die sich abwechselnd die Bälle zuspielen und ein weiterer berichtet von den Spielständen in den anderen Stadien. „Wenn ich im Stadion sitze, bin ich immer auf Ballhöhe – das machen die Jungs wirklich gut“, sagt Zellmer. Für die Studenten ist besonders der gezielte Einsatz der Stimme wichtig. Sie variieren Tonlage und Geschwindigkeit, passen diese der Spielsituation an.
Zellmer und Conrad lauschen den Ausführungen, erahnen den richtigen Moment für ein Tackling. Die beiden haben ein Gespür für die Situationen entwickelt. Neben den Ausführungen der Kommentatoren achten sie auch auf die Atmosphäre. Raunen im Stadion bedeutet, dass sich auf dem Feld etwas tut.
Nach gewonnen Spielen bleiben viele Sehbehinderte noch ein bisschen sitzen, lassen sich die Jubelszenen auf dem Spielfeld beschreiben. Bei drohenden Niederlagen verlassen sie auch gerne mal früher das Stadion – wie andere Fans auch. Mit einem Lob an ihre ganz persönlichen Moderatoren verabschieden sie sich und gehen.