Alle Blankeneser sind eingebildet und fahren einen Jaguar. Hinter diesem Vorurteil verstecken wir unseren Neid, während wir staunend durch das Treppenviertel wandeln und insgeheim das Leben im kleinen, schäbigen WG-Zimmer verteufeln.
Als Ludwig von Otting von seiner Lebensgefährtin nach Blankenese geschleift wurde, um eine Mietwohnung zu besichtigen, formulierte er im Geiste bereits alle Argumente gegen einen Umzug. Er war sich sicher: In dieser Gegend wohnen nicht die Menschen, mit denen er etwas zu tun haben will.
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Seit fünf Jahren wohnt der gebürtige Münchner nun bereits mit seiner Familie, den zwei Söhnen und der Freundin Cornelia, in dem schlichten, weißen Häuschen am Elbstrand. Der hinreißende Blick durch die Eingangstür, den Flur, durch das Wohnzimmer und ein großes Panoramafenster, direkt auf das Wasser, zerschmetterte damals jeglichen Widerstand gegen einen Umzug.
Wir sitzen zusammen mit Ludwig in dem kleinen, zum Haus gehörenden Garten, der gegenüber der Wohnung liegt. Der auf die sechzig zugehende Herr hat das
Kinderbuch, welches seiner Feder entsprang und das er gerade korrigieren wollte, beiseite gelegt und fängt an zu erzählen.
Haus und Garten teilen sie sich mit einer jungen Familie, die im Erdgeschoss wohnt, sie selbst leben unter dem Dach. Entgegen Ludwigs anfänglicher Befürchtungen ist das Verhältnis innerhalb der Nachbarschaft sehr locker und entspannt. Die Atmosphäre ist dörflich und die Menschen sind so normal wie Ludwig glaubt selbst zu sein. Die Kinder spielen zusammen, die frohe Botschaft eines frisch gebackenen Kuchens wird von Fenster zu Fenster weitergegeben und ab und zu legt man sogar seine Wurst auf den gleichen Grill. Ludwig selbst zog schon in jungen Jahren von München nach Hamburg, um den größt möglichen Abstand zum Elternhaus aufzubauen. Nicht die Liebe zur Stadt, sondern einige Freunde und das Bedürfnis nach Großstadt-Flair ließen Hamburg seine neue Heimat werden. Hier machte er zwei juristische Staatsexamen
und lernte die nordischen Menschen zu schätzen. Deren Auftreten wird häufig übermäßige Kühle zugeschrieben – Ludwig interpretiert die dezente Zurückhaltung der Hamburger jedoch als respektvolle Diskretion.
Aller Diskretion zum Trotz bohren wir mit unseren Fragen weiter und benötigen gar drei Anläufe, bis es uns gelingt, Ludwig die Information aus der Nase zu ziehen, dass er seine Brötchen als Geschäftsführer des Thalia-Theaters verdient. Wir sind überrascht und lassen uns dies durch euphorische Ausrufe leider auch anmerken.
Obwohl Blankenese wunderschön idyllisch und ruhig ist, die Vorteile von Stadt und Dorf vereint und direkte Bademöglichkeiten bietet, birgt das Leben am Elbufer auch Nachteile und Risiken.
So müssen zum Beispiel die Einkäufe zu Fuß vom Auto nach Hause geschleppt werden, da die nächstgelegene Parkmöglichkeit 200 Meter entfernt liegt. Außerdem droht im Winter oftmals Hochwasser, welches vor einigen Jahren die Familienkutsche absaufen ließ, glücklicherweise allerdings bis heute die Grundstücksgrenze nicht überschritt. Dass eben dies geschieht, offenbart uns Ludwig, wird wahrscheinlicher, wenn die Elbvertiefung vollzogen werden würde. Ob er mit seiner Familie dann noch in Blankenese wohnt, ist fraglich, denn er ist, wie die meisten seiner Nachbarn auch, nur durch einen Zeitvertrag an seine Mietwohnung gebunden.
Einen weiteren Störfaktor stellt die Flugzeugwerft in Finkenwerder – auf der anderen Seite der Elbe – dar, die vielen Anwohnern das Gefühl von Idylle raubt.
Diese Verschandelung der Aussicht wird jedoch wieder wett gemacht durch die großen Frachtschiffe, die aus Ländern der ganzen Welt zum Hamburger Hafen reisen und – so denkt Ludwig – bei jedem Betrachter ein Gefühl romantischer Sehnsucht nach der Ferne auslösen.
Wir enttäuschen Ludwigs Glauben an die Diskretion der Hamburger ein weiteres Mal, als wir ihn bitten, seine Behausung anschauen zu dürfen. Doch wir müssen weder betteln noch Mauern starken Widerstandes einreißen. Er gibt uns sehr selbstverständlich bei der backenden Cornelia ab und verschwindet wieder ohne viele Worte im Garten.
Cornelia ist herzlich, bietet Kaffee an und lässt uns gewähren, als wir unsere gierigen Blicke durch die einzelnen Zimmer wandern lassen. Obwohl die Kinder zum Spielen nach draußen verbannt wurden, sind überall ihre Spuren in Form von Spielzeug und bemalten Wänden vorhanden. Wir sollten nicht stolpern, meint Cornelia und lacht. Die Kinder hätten das Wohnzimmer erobert.