Vintage vs. Ramsch

Herzlich Willkommen auf dem "Vintage Market Kampnagel!"

Es regnet. Meine Retro-Chucks stehen mit mir in einer Pfütze. Nicht in der ersten, sondern bereits in der dritten innerhalb von 15 Minuten. Vor mir und hinter mir sehe ich nur Menschen, von jung bis alt, die gelangweilt ihr Gewicht immer wieder von einem auf das andere Bein verlagern. Wir warten. Darauf endlich den Eingang sehen zu können.

Dann meine Rettung: „Magst du meine Karte haben? Wurde nicht abgerissen…“ Mit einem strahlenden Lächeln und nassen Haaren schnappe ich mir das Ticket aus den Händen einer Studentin. Sie, ihr Leoprint-Mantel und der moderne Sidecut sind nicht allein: Eine Tasche voll mit Schallplatten, ein kleiner eingestaubter Hocker und goldene Bilderrahmen klemmen unter ihren Armen. Gute Beute! Und damit ein herzliches Willkommen auf dem diesjährigen „Vintage Market Kampnagel“.

Auf den ersten Blick

Ein aufrechter Gang und das kleine blaue Ticket helfen mir, schnell an der wartenden Menge vorbeizukommen. Nervige Blicke bleiben natürlich nicht aus. Mir ist es egal, denn jetzt bin ich drin. Wer schon einmal im Kampnagel war genießt sofort den Mix aus Fabrikhalle, schlecht verputzten Wänden und knallpinken Sesseln, gepaart mit dem Duft von Kaffee und kleinen Leckereien aus der Lounge. Heute riecht es anders. Alt und eingestaubt. Direkt am Eingang treffe ich auf Dieter. Meine Frage, wie viel er denn schon verkauft habe, ignoriert er. Viel lieber erzählt er vom alten Telefon seiner Schwiegermutter: „Eigentlich unverkäuflich… es sei denn, du rätst ihre Nummer?!“ Ich rate. Und lande stark daneben. Zwei Stände weiter stöbern drei junge Mädels in alten Schuhkartons – bis zum Rand gefüllt mit silbernen Armreifen, Ketten aus Rosenquarz und Bernstein, bunten Ringen und edlen Broschen. Für einen Knopf aus Perlmutt bezahlen sie 25,- Euro. Hier scheint das Geld sehr locker zu sitzen. Freude bei den Händlern – Fragezeichen in meinem Gesicht.

Von der Eingangs- zur Haupthalle führt nur ein Weg. Voll gestellt mit alten, wackeligen Stühlen, grob verarbeiteten Holztischen und Metalllampen. Preisschilder gibt es nicht. Auf Anfrage verrät mir der Händler eine dreistellige Summe. Ich gehe nickend weiter.

Auf den zweiten Blick

Gemeinsam mit einer Menschentraube schiebe ich mich in die Haupthalle. Ein Paradies für Sammler und Entdecker: Schallplatten, sortiert nach Genres und Jahrzehnten, Bücher über Hamburg, Technik und Haushalt, kleine Notizblöcke mit Skizzen aus dem frühen letzten Jahrtausend… Hier gibt es alles! Drei Gänge, zu beiden Seiten voll mit Ständen und Händlern. Ich versuche mir einen geschickten Wegeplan zu machen – vergeblich! Meine Augen wandern von rechts nach links, vollgestellte Regale und Tische entlang. Ich verliere die Orientierung und bin begeistert – wenn auch leicht überfordert – von der Vielfalt an Schätzen, Kuriositäten, Kitsch und Schmuckstücken. Viele davon sind wahre Herzstücke – die hohen Preise machen das deutlich: „220,- Euro für einen Bockspring-Hocker? Ich wusste schon immer, warum ich diese Teile beim Schulsport gehasst habe…“ kommentiert ein Besucher. Vintage-Möbel sind in, doch den entsprechenden Preis wollen hier nur wenige zahlen. „Das ist ja immer noch ein Flohmarkt, oder?“ Gute Frage. Der Stand präsentiert sich eher wie eine Luxus-Variante eines großen schwedischen Möbelhauses.

Ein Handschlag: Glück auf!

Leicht gereizt auf der einen Seite, umso glücklicher der Händler von gegenüber. Sein Warentisch biegt sich mit alten Werkzeugen und Bestecken, glitzernde Plastik-Flaschenöffner, Kitschdeko und Metallschildern fast durch. Harry ist 78 Jahre alt. Und in dieser langen Lebenszeit sammelte sich so einiges an: „Wegschmeißen geht doch nicht… wer bei mir kauft, bekommt die Geschichte zum Herzstück gratis dazu.“ Das ist sehr zeitintensiv – der Grund, warum seine Zigaretten-Schachtel immer noch voll ist.

Der Markt lebt von dem Charisma der Händler. Ihr Auftreten und die persönlichen Eigenarten müssen zum Warenangebot passen, dazu die beeindruckende Erzählungen – ob sie nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Interesse zeigen hier viele Besucher mit ihren stöbernden Blicken und Händen, die alles anfassen. Der Schritt zum Kauf muss durch den Händler gefördert werden. Gibt es einen preislichen Spielraum? Wie stark ist die Beziehung zur Ware? Per Handschlag wird man sich einig.

Einig sind wir uns noch nicht. Margarethe will mir ihre Kamera verkaufen. Ein schönes Stück aus den 60er Jahren. Auch wenn ich die Funktionalität in Frage stelle versichert mir die Noch-Besitzerin voller Stolz: „Die Kamera macht nur Bilder von wirklich hübschen Menschen!“ In meinen Augen kein starkes Argument für einen Vintage-Kauf. Nur wenige Händler schaffen es, gute Argumente zu finden, die für einen Kauf notwendig sind. Zu strenge Preisspektren, keine Lust zum Handel und nur wenig Interesse, seine eigenen Waren „loszuwerden“.

Ein Ende: Schnell raus!

Hervorragend, altehrwürdig, erlesen – das alles ist „Vintage“. Viele Händler sind der Definition nicht gerecht geworden. Zu viel Ramsch, zu wenig Vintage. Die Reaktionen zur Veranstaltung auf der Facebook-Seite leider sehr einseitig: von „nicht noch mal…“ über „naja“ bis „das Geld kann man sich echt sparen“. Zu wenig seriöse Anbieter, falsch geleitete Werbung, zu klein. Die Besucher, die Beute gemacht haben, waren darauf bedacht, wenigstens den Eintrittspreis wieder raus zu handeln.

Doch die Masse belebt das Geschäft. Kurz vor Ende der Veranstaltung sind die Hallen noch gut besucht. Hier und da werden noch Verhandlungsgespräche und Anekdoten erzählt. Ich verlasse die Fabrikhalle und trete hinaus in den Hamburger Nieselregen. Unter meinen Armen klemmen zwar keine Bilderrahmen, Spiegel oder Schallplatten, aber das Lächeln bleibt. Denn auch ich musste keinen Eintritt zahlen.

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Von Sina-Felicitas Wende

"Schreibe wie du redest, so schreibst du schön." (Lessing) Moin, moin! Mein Sommermärchen 2014 neben dem Weltmeistertitel?! Ganz klar: Die Mitarbeit beim Hamburger Freihafen. Seit Juni darf ich hier meine bunten Gedanken und Ideen für Euch veröffentlichen. Beruflich bleibe ich die Hamburger Deern und lerne beim NDR alles über AV-Produktionen. Stay tuned! ;-)

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