Schon eine Stunde vor Beginn füllt sich der letzte leere Stuhl und auch die meisten Stehplätze im gemütlichen Halbdunkel sind kurz darauf besetzt. Ein Großteil des Publikums hat die 30 schon weit hinter sich gelassen, nur wenige junge Leute scheinen sich an diesem Freitagabend zur Autorenlesung von Wladimir Kaminer in die Altonaer Fabrik verirrt zu haben. Was auch daran liegen könnte, dass einmal Herrn Kaminer zuhören zweimal Kinofilm gucken kostet.
Fünfzehn Minuten vor Acht ist auch der letzte freie Stützbalken im Raum mit Menschen belehnt. Ausverkauft bedeutet heute offensichtlich, dass die hinterste Reihe Stehplätze sich fast außerhalb der Hör- und Sehweite der Bühne drängt. Trotzdem ist die Stimmung super, man schunkelt zur Hintergrundmusik im Stil der für Kaminer typischen „Russendisko“ und wartet gespannt auf den „Zaren der Völkerverständigung“. Wladimir Kaminer ist seit über einem Jahrzehnt der wahrscheinlich populärste in Deutschland lebende russische Autor, DJ und Kolumnist. Seine Werke verfasst Kaminer nicht in seiner Muttersprache, sondern ausschließlich auf Deutsch. Seine Hörbücher liest er mit seinem charmanten russischen Akzent alle selbst ein. Als der Dreiundvierzigjährige im formellen, fast steifen Business-Outfit und schicker Anzughose mit passender Weste über dem weißen Hemd die Bühne betritt, ist von Reserviertheit trotzdem nichts zu spüren. Wladimir kennt sein Publikum und sein Publikum kennt ihn. Er scheint die Fabrik seit der letzten Lesung im Vorjahr nie verlassen zu haben. Er knüpft direkt an die letzte Lesung an und fragt das Publikum, was es diesmal hören möchte. „Schneechaos“ wäre eine schöne neue Geschichte, aber nun sei ja leider alles weggetaut, bedauert der Autor und lacht. Dann eben „Kängurus“, eine Geschichte, die er verfasst hat um sich selbst für den anstehenden Australien-Reise zu motivieren. Seine flott geschriebenen Kurzgeschichten liest er in einer für ihn typischen lapidaren Art vor. Die in seinen Erzählfluss eingeflochtenen Anekdoten und Alltagsweisheiten nehmen mehr oder weniger stereotype Eigenheiten der Russen und Deutschen auf die Schippe. So betrieben zwar alle Russen entweder aktiv oder passiv Eiskunstlauf, die russischen Sender zeigten eigentlich den ganzen Tag nichts Anderes, trotzdem sehne sich die russische Seele heimlich nach südlicher Wärme. „Leichte Kleidung, Sonnenbrillen und eiskalter Wodka natürlich verkaufen sich das ganze Jahr über prächtig – das ist für mich der innere Strand der russischen Seele.“ Kaminer erzählt von seiner Kindheit und Jugend in der Sowjetunion als wäre sie erst wenige Jahre her und vergleicht seine eigene Erziehung und Schulzeit mit der seiner Kinder. „Zeichne die weiblichen und die männlichen Geschlechtsorgane – so eine Hausaufgabe hätte es bei uns für Elfjährige sicher nicht gegeben.“ Die meisten Zuhörer, offenbar viele von ihnen Stammbesucher, kennen seine Familie schon und freuen sich über Neuigkeiten von Frau Olga und den beiden Kindern.
Seine treuesten Fans sind von Anfang an ziemlich aufgekratzt, noch auf jeden Nebensatz folgen bestätigende Heiterkeitsausbrüche. Jede Pointe wird begeistert kommentiert. Die Interaktion mit dem Publikum funktioniert, Kaminer versteht es gute Unterhaltung ohne Plattheiten zu bieten. Gerade auch wegen der betont holprigen russischen Aussprache der deutschen Texte. Denn der Gedanke scheint angesichts der brillanten Performance vielleicht erst mal abwegig, aber: Wären die Texte nur halb so amüsant, wenn sie in perfektem glattem Deutsch vorgetragen werden würden? Egal. Auch, dass einige der satirischen Bemerkungen über die „typisch deutsche“ Ordnungsliebe und Autoritätshörigkeit („Wenn das Navi rechts abbiegen sagt, fährt der Deutsche auch in den Fluss! “) einen arg langen Bart haben (genau wie die russischen Pendants über Wodka und gelebter Anarchie), lässt der wortgewandte Völkerverständiger vergessen und alle darüber lachen. Nach mehr als zwei Stunden legt er seinen letzten Text nieder und will sich verabschieden. Doch es werden – wie immer – weitere Zugaben gefordert, das Publikum will seinen Star noch nicht wieder gehen sehen und Kaminer kann nach der zweiten Zugabe nur mit dem Versprechen, beim nächsten Mal hier wieder anzuknüpfen und einem entschiedenen „Maestro: Musik!“ einen klaren Schlusspunkt setzen. Des Signierens vieler Bücher ist der Altmeister noch nicht müde und erfüllt so geduldig auch den letzten Leserwunsch.
Foto: Julia Petersohn